Innovative AR/VR Anwendungen für Industrie und Produktionsprozesse

Das im Sommer 2020 ausgefallene Sommerfest der tekom-Regionalgruppe Berlin Brandenburg fand am 23.11.2020 als dreistündiger Online-Workshop statt. In meiner Funktion als tekom-Regionalgruppenleiterin Berlin Brandenburg konnte ich für diese hochspannende Veranstaltung die Referentinnen Frau Dr. Brandenburg und Frau Konkol, beide vom Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik und Herrn Dipl.-Inf. Oliver Ringel von Rolls Royce Deutschland Ltd & Co KG gewinnen. Diese Vorträge ergänzte ich mit einem für Technische Redakteure relevanten Beitrag zur Verfahrenshauptgruppe „Fügen“ und zur Definition des Begriffes "Arbeitsschritt" bzw. des Begriffs "Arbeitsvorgangs", wie diese in der DIN 8580 nämlich genannt werden.

Sehr zahlreiche interessierte Zuhörer lernten im Workshop das enorme Anwendungspotenzial innovativer VR/AR-Anwendungen kennen, die bei Rolls Royce Deutschland Ltd & Co KG in der Triebwerksmontage im Forschungsprojekt "Cockpit 4.0" erarbeitet wurden und beispielsweise für die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter eingesetzt werden.

Zunächst erfuhren wir, was „Virtuelle Produktentstehung“ ist, dass diese eine sehr junge und innovationsgetriebene Disziplin ist, die auf einer durchgängigen Digitalisierung aller an der Produktion beteiligten Bereiche, Abteilungen, Teilprozesse und Prozessketten beruht. Wir konnten erleben, welche kreativen Potenziale durch die Verschmelzung von Produktionstechnik mit informationstechnischen Technologien und leistungsstarken Visualisierungstools entfaltet werden können und wie komplexe Visualisierungsmethoden mit konstruktivem Design, digitalen Zwillingen, iterativen Validierungsmethoden und der digitalen Fabrik verknüpft werden können.

Mit diesen Technologien können Produkte via Visualisierung in jedem Stadium ihrer Entstehung, von der Idee, über jeden einzelnen Fertigungs- und Arbeitsschritt bis hin zur praktischen Umsetzung laufend virtuell getestet und iterativ validiert werden, weshalb man auch von prototypenfreien Prozessen spricht, die weit über eine reine 3D-Darstellung hinausgehen. Alle Funktionen, Merkmale, Verhaltensweisen, Verarbeitungseigenschaften und ablaufenden Prozesse der räumlich in Originalgröße dargestellten Produkte und Systeme können mit diesen Technologien abgebildet werden. Durch die Visualisierung komplexer Fabrikplanungsprozesse und Prozessschritte können das Bauteil- und Maschinenverhalten, die Funktionsweise und das reale Verhalten von Produkten in Echtzeit visualisiert, überprüft und vorhergesagt werden. Bereits in der Planungsphase können hochkomplexe Strukturen und Funktionen von Produkten in Echtzeit auf mögliche Schwachstellen geprüft werden.

Insbesondere für Nutzergruppen wie gewerblich-technischen Zielgruppen sind diese Technologien hochinteressant, da sie alle am Produktlebenszyklus beteiligten Stufen und Schritte wie Füge- und Montageschritte leicht nachvollziehen und manuelle und maschinelle Fertigungsverfahren leichter erlernen können. Auch Arbeitsplanungen, Instruktionen, Arbeitsmittel und das Verhalten von Bauteilen und Baugruppen im Fertigungs- und Instandhaltungsprozess können abgebildet werden. Nutzer können zwischen Einzelteilen, Baugruppen, Subsystemen und komplexen Systemen wählen, können an zu montierenden oder zu wartenden Maschinen Arbeitsschritte und Vorgänge virtuell ausführen und ihre Ausführungsqualität prüfen. Sie können während der Montage testen, ob Bauteile kollidieren und so die Machbarkeit ihrer Arbeitsplanung prüfen, ohne dabei tatsächlich am realen Objekt zu arbeiten. Die neuen Technologien sollen gewerblich-technische Zielgruppen dabei unterstützen, die verfahrensgerechte Ausführung von Arbeitsschritten zu erlernen und dabei die erforderlichen Prozessparameter einzuhalten. Die im Forschungsprojekt entwickelten Technologien helfen aber auch Technischen Redakteuren dabei, unmissverständliche und weniger fehlerträchtige Dokumentationen bereitzustellen, da durch die spracharmen Visualisierungen umfangreiche und fehleranfällige Textmengen entfallen, wodurch nicht nur Haftungsrisiken minimiert, sondern auch Übersetzungskosten eingespart werden können.

So zeigte uns Frau Dr.-Ing. Brandenburg am Beispiel von Triebwerkskomponenten wie die in natürlicher Sprache vorliegenden Fügeinstruktionen visualisiert werden. Aber auch neue Fügeinstruktionen können erstellt, visuell getestet und sofort validiert werden. Im Anschluss an Frau Dr. Brandenburgs Vortrag stellte ich die „DIN 8580 Fertigungsverfahren – Begriffe, Einteilung“ vor und beleuchtete den in dieser Norm definierten Begriff „Arbeitsvorgang“, der Technischen Redakteuren eher als „Arbeitsschritt“ geläufig ist, bevor ich kurz auf die theoretischen Grundlagen der Hauptgruppe 4, Fügen und auf Fügeprozesse in der Triebwerksmontage einging. Zum Abschluss stellte ich den Zusammenhang dieser Norm mit den gewerblich-technische Zielgruppen, insbesondere deren Fachwissen, das entsprechend der DIN EN 20607 und IEC/IEEE 82079-1 in Anleitungen angemessen zu berücksichtigenden ist, her und hob in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der ingenieurwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen Maschinenbau und Produktionstechnik hervor.

Herr Dipl.-Inf. Oliver Ringel von Rolls Royce Deutschland GmbH & Co KG ging zunächst auf den auch in der Luftfahrt anstehenden Technologiewandel durch hybridelektrische und elektrische Antriebe ein, bevor er den modulweisen Aufbau und die Funktionsweise von klassischen Lufttriebwerken, die Gegenstand des Forschungsprojekts Cockpit 4.0 sind, erläuterte. Das Ziel des industriellen Partners Rolls Royce im Forschungsprojekt Cockpit 4.0 war, die hauseigenen Monteure beim Montageprozess zu unterstützen. Mit Hilfe sogenannter „Digital Mockups“ und stereoskopischer Projektion können die Monteure jedes Bauteil einzeln entfernen, begutachten und die Einhaltung der Passungsmaße einer Baugruppe beurteilen. Für die Planung der Montagehallen (Factory Layout Planning) werden VR Technologien eingesetzt, um vor dem Beginn der Montage jede einzelne Station zu testen, Werkzeuge virtuell zu platzieren und die Teil- und Gesamtprozesse zu validieren. Um die einzelnen Zusammenbausequenzen digitalisieren zu können, mussten die Ersteller zuvor jede einzelne der über 3000 Sequenzen und manuellen Bewegungsabläufe nachstellen, wobei der Anspruch bestand, die Anweisungen durch einen hohen Standardisierungsgrad auf der linguistischen Ebene maschinenlesbar zu machen. Die Maschinenlesbarkeit der nach STE 100 erstellten Anweisungen erlaubt auch das maschinelle Übersetzen in verschiedene Sprachversionen.

Für Technische Redakteure war daher besonders interessant, dass mit den im Gemeinschafts-Forschungsprojekt entwickelten Tools die von TRs erstellten Instruktionen validiert und auf ihre Ausführbarkeit hin geprüft werden können. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sämtliche terminologischen Probleme vorab gelöst werden und eine gut gepflegte Datenbank mit den beteiligten Mitarbeitern erarbeitet wurde. Auch gute Kenntnisse des Fachwissens der gewerblich-technischen Zielgruppen sind eine notwendige Voraussetzung.

Autorin: Katrin Reinhardt, ³Engineering Linguist